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Biblis-Klage vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof 13|12|2008
Die völlig veralteten Atomkraftwerke Biblis A + B [Bildquelle: Google-earth]
„Es
dürfte einzigartig in einer atomrechtlichen Auseinandersetzung sein,
dass der zentrale Vorwurf der Kläger von der beklagten
Atomaufsichtsbehörde ausdrücklich zugegeben wird“, erklärte die
Dortmunder Rechtsanwältin Wiltrud Rülle-Hengesbach am 12. Dezember
anlässlich des Einreichens der Klagebegründung beim Hessischen
Verwaltungsgerichtshof zur Stilllegung des Atomkraftwerkblocks Biblis B.
„Da
das hessische Umweltministerium in einem Vermerk vom 19. September 2005
selbst einräumt, dass das Atomkraftwerk Biblis selbstverständlich nicht
dem heutigen aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entspricht,
die Anlage also sicherheitstechnisch veraltet und faktisch auch nicht
nachrüstungsfähig ist, liegen die Tatbestandsvoraussetzungen für einen
Widerruf der Genehmigung von Biblis B laut Atomgesetz unstreitig vor“,
sagte Rülle-Hengesbach im Namen von drei Klägern, die Mitglieder der
atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW bzw. der Bürgerinitiative
„Biblis abschalten“ sind. Die Klage umfasst insgesamt mehr als 350
Seiten. Laut Klagebegründung gibt sogar der Biblis-Betreiber RWE zu,
dass die Anlage sicherheitstechnisch „altert“ und insofern nicht mehr
dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entspricht.
„Unsere
Ausgangsposition vor Gericht ist insofern nicht schlecht“, so
Rülle-Hengesbach. „Da die Tatbestandsseite unstreitig ist, werden wir
uns vor dem Verwaltungsgerichtshof in Kassel nur noch über die so
genannte Rechtsfolgenseite auseinandersetzen müssen, d. h. über die
Frage, ob das Atomkraftwerk zwingend stillzulegen ist oder ob die
Behörde, wie sie glaubt, im Rahmen einer Ermessensentscheidung die
sicherheitstechnisch völlig veraltete Anlage dennoch weiterlaufen
lassen darf.“ Eine Ermessensentscheidung zugunsten des Weiterbetriebs
ist nach Aussage der Rechtsanwältin aber nicht rechtmäßig, weil nach
dem Kalkar-Urteil des Bundesverfassungsgerichts durch den Wegfall einer
Risikovorsorge nach dem Stand von Wissenschaft und Technik „überragend
wichtige Grundrechte der Kläger und der Allgemeinheit“ verletzt würden
und „das Ermessen der Behörde insofern auf Null reduziert ist. Ein
Bestandsschutz für gefährliche Altmeiler ist mit dem geltenden
Atomgesetz nicht vereinbar und wurde auch vom Bundesverwaltungsgericht
im Whyl-Urteil verneint“, so Rülle-Hengesbach.
Die
hessische Atomaufsicht sei nach Auffassung der Kläger auch deswegen zur
Stilllegung von Biblis B gezwungen, weil wegen der vielen
Sicherheitsmängel bei der Störfallbeherrschung eine Gefahr im Sinne des
Atomgesetzes vorliege. Der Atomenergie-Experte der IPPNW, Henrik
Paulitz, hat als Sachbeistand in dem Rechtsstreit 210 schwerwiegende
Sicherheitsmängel von Biblis B dokumentiert. „Wir stützen uns hierbei
insbesondere auf Bewertungen der Gesellschaft für Reaktorsicherheit und
des TÜV Süd. Das sind die Hausgutachter der Atomaufsicht des Bundes und
des Landes Hessen. Wir tragen also nur die sicherheitstechnischen
Mängel vor Gericht vor, die die Experten der Behörden selbst sehen“, so
Paulitz. „Es dürfte die Richter des Verwaltungsgerichtshofs in Kassel
kaum überzeugen, wenn die hessische Atomaufsicht sicherheitstechnische
Bewertungen der eigenen Gutachter abstreiten oder relativieren will.“
Paulitz
verweist auf 20 Mängel bei der Beherrschung der gefährlichen „kleinen
Lecks“, auf 17 Mängel bezüglich der hochkomplexen Abläufe bei einem
„Dampferzeuger-Heizrohrleck“ und auf 24 Sicherheitsmängel bezüglich des
gefürchteten Notstromfalls. Ein sehr kleines Primärkreisleck 1995, eine
Dampferzeuger-Kleinstleckage 1998 und die wiederholten Notstromfälle –
zuletzt am 8. Februar 2004 infolge eines Unwetters – machen laut
Paulitz deutlich, dass es in Biblis B jederzeit zur Atomkatastrophe
kommen kann.
Nach einem aktuellen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. April 2008 sind Atomkraftwerke nicht nur gegen Auslegungsstörfälle, sondern auch gegen „auslegungsüberschreitende Ereignisse“ zu schützen. „Die katastrophal schlechte Kernschmelzfestigkeit und der völlig unzureichende Schutz gegen Störfälle mit Ausfall der Reaktorschnellabschaltung bekommen so vor dem Gerichtshof in Kassel vermutlich ein sehr viel größeres Gewicht als bisher gedacht“, so Paulitz. „Das Gericht dürfte in diesem Zusammenhang auch den OECD-Bericht von 1997 würdigen, in dem die deutsche Anlage Biblis B im internationalen Vergleich am schlechtesten abschneidet.“
Rechtsanwältin Rülle-Hengesbach verweist ferner
darauf, dass nach dem Whyl-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts die
Atomaufsicht „Gefahren“ durch „hinreichend konservative Annahmen“
ausschließen muss. „Da unter anderem der Erdbebenauslegung von Biblis B
keine konservativen Annahmen zugrunde liegen, besteht eine Gefahr im
Sinne des Atomgesetzes“, so Rülle-Hengesbach. Paulitz erläutert, dass
die hessische Atomaufsicht lediglich einen Schutz gegen die schwächere
Hälfte der am Standort Biblis möglichen Erdbeben verlangt. „Im
Fachjargon heißt das, dass die Begutachtung der Erdbebenfestigkeit
lediglich auf der Basis der 50%-Fraktilen erfolgt“, so Paulitz. „Der
eigene Erdbeben-Gutachter der Behörde, die Reaktorsicherheitskommission
wie auch das Oberlandesgericht Rheinland-Pfalz haben aber
übereinstimmend festgestellt, dass die Verwendung der 50-%-Fraktile
nicht konservativ ist“. Das Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich sei deswegen
stillgelegt worden. „Die Stilllegung wurde durch eine Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichts rechtskräftig“, betont Rülle-Hengesbach. „Das
zeigt, dass es rein willkürlich wäre, Biblis B unter den gleichen
Voraussetzungen wie Mülheim-Kärlich nicht stillzulegen.“
Die
Atomkritiker der Ärzteorganisation IPPNW haben die Klage zur
Stilllegung von Biblis B viele Jahre lang gründlich vorbereitet.
„Allein zwei Jahre lang dauerte das Ringen mit der hessischen
Atomaufsicht um den Zugang zu ausgewählten Behördenakten“, so Paulitz,
der inzwischen auch Einsicht in die Verfahrensakten nehmen konnte. Er
stellte dabei fest, dass die Behörde die Einsicht in Akten zur
Sicherheit von Biblis B deswegen massiv behinderte, damit die IPPNW
nicht „in die Lage versetzt“ werde, die Klage möglicherweise noch
„besser zu begründen“, wie einer behörden-internen Email zu entnehmen
war. „Trotz der willkürlichen Behinderungen durch die Behörde waren wir
bei der Akteneinsichtnahme und bei unseren sonstigen Recherchen dennoch
erfolgreich“, so Paulitz.
Man könne aufzeigen, dass
der Biblis-Betreiber RWE nicht zuverlässig sei. Nach dem Atomgesetz
dürfen aber noch nicht einmal Tatsachen vorliegen, wonach Zweifel
(„Bedenken“) an der Zuverlässigkeit des Betreibers bestehen. Tatsache
sei aber, dass RWE wiederholt aus Gefahrenhinweisen nicht die
erforderlichen Konsequenzen gezogen habe. Die IPPNW hält RWE weiterhin
vor, die Anlage zu selten und sogar mit ungeeigneten Methoden zu
untersuchen, bei sicherheitsrelevanten Arbeiten beständig
schwerwiegende Fehler zu machen, erforderliche Nachrüstungen jahrelang
zu verschleppen oder überhaupt nicht durchzuführen. Auch hätte RWE
selbst längst die Stilllegung von Biblis B beantragen müssen, weil die
Anlage gravierend vom Stand von Wissenschaft und Technik abweicht.
Verwiesen wird ferner darauf, dass die Atomaufsicht selbst, Gutachter
und alle Landtagsfraktionen immer wieder schwere Vorwürfe gegen RWE
erheben.
„Wir
wollen das Gericht davon überzeugen, dass Biblis B aus ganz
unterschiedlichen Gründen nach geltendem Recht stillgelegt werden
muss“, so Paulitz. Es werde auch die unzureichende Deckungsvorsorge
angesprochen. „Selbst die Juristen der Bundesatomaufsicht halten es für
nicht rechtmäßig, dass nach einem Atomunfall noch nicht einmal 0,1
Prozent der finanziellen Schäden ausgeglichen werden können. Das wurde
auf den offiziellen Atomrechtssymposien immer wieder festgehalten“, so
Paulitz.
Kontakt: Wiltrud Rülle-Hengesbach Rechtsanwältin Dortmund | Tel. 0231-57 40 81
Henrik Paulitz Atomenergie-Experte der IPPNW Tel. 0171-53 888 22
Quelle: www.IPPNW.de
Video: Video zur Anklage
Links:
EWS 23|07|08 Asse 2 alle überrascht
www.ASSE2.de www.AufpASSEn.org Atomkraft ist lebensgefährlich 08|07|2008: Notstand beim Atommüll - Frontal 21 05|02|2008: Gefährliches Uran - Frontal 21 Ehemaliger Betreiber Asse 2: Helmholtzzentrun
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Tschernobyl Morsleben [ERAM]
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